Zur Frage der verschiedenen wohltemperierten Stimmungen
Neue Lösungsversuche aus dem Dilemma
Es dauerte etwa 300 Jahre, bis in Dornach (bei Basel) Maria Renold auf die Idee kam, dass man das pythagoräische Komma doch auch auf zwei statt auf eine (oder zwölf) unreine Quinten verteilen kann – und es gibt ja zwei Quinten, die von den weißen Tasten zu den schwarzen führen (B-F und H-Fis). Dann ist die Unreinheit der Quinten nur noch halb so groß wie bei der pythagoräischen Stimmung und vielleicht erträglich. Es ist erstaunlich, dass diese Idee so lange auf sich warten ließ.
Es
zeigte sich: Diese Art der Stimmung verbindet die Schönheit der
reinen Quinte (für 10 von 12 Quinten) mit der Spielbarkeit
für alle Tonarten:
Bei der gewohnten,
gleichstufig-wohltemperierten Stimmung liegen die Differenzen zwischen
den reinen und den unreinen Intervallen, sozusagen der
„Fehler“ zwischen 0,1 und 0,9 %.
Bei der Stimmung mit zehn reinen Quinten liegen sie zwischen 0 (für Quint, Quart mit je 2 Ausnahmen, große Sekund und kleine Septim mit je 2 Ausnahmen) und 1,25% (bei Terzen und Sexten). Die beiden unreinen Quinten „schweben“ mit ca. 4 Hz im mittleren Bereich (0,68%), die beide unreinen Quarten ebenso. Dabei hat jede Tonart eine andere Kombination von Schwebungen, so dass jede Tonart anders klingt (was der Laie nicht bemerkt, aber wahrnimmt, das heißt unbewusst empfindet).
Der Unterschied zwischen wahrnehmen und bemerken liegt im Bewusstsein: Man kann etwas wahrnehmen, ohne es zu bemerken. Wenn der Kühlschrank plötzlich abschaltet, kann man erkennen, dass man ihn die ganze Zeit gehört, aber nicht bemerkt hatte.
Wegen der recht unreinen Quinten und zehn unreinen Terzen (von 24 Terzen, s. o.) habe ich später eine Stimmung mit neun reinen Quinten gefunden, wodurch beide Mängel abgemildert wurden (die "HaDEs-Stimmung" nach den unreinen Quinten ab H, D und Es).
Beide Stimmungen mit neun oder zehn reinen Quinten klingen sehr angenehm. Die entstehenden Schwebungen in Kreuz- und B-Tonarten klingen nicht verstimmt, sondern lebendig und geben je nach Tonart verschiedene Charaktere, bei den 10 reinen Quinten deutlicher als bei neun reinen Quinten (allerdings gibt es viele gleiche Tonarten, Näheres siehe unten bei den Schwebungsübersichten).
Im
Laufe der Jahre begannen die unreinen Quinten mich doch zu stören.
Auch ein Drittel des pythagoräischen Kommas ist auffällig
unrein. Die Unreinheiten stören auch viele andere Musiker.
Außerdem gab es noch einen weiteren Grund, sich weiter mit den
Stimmungen zu beschäftigen: Die Verschiedenheit der Tonarten hat
etwas Zufälliges („Wollte der Komponist denn, dass sein
Stück in seiner Tonart so klingt wie bei deiner Stimmung ?").
Darum habe ich einmal versucht, ein Klavier mit 6 unreinen Quinten zu
stimmen. Da gibt es natürlich maximal viele Varianten (924), ich
habe mal auf Verdacht begonnen, die vier Quinten zwischen den fünf
schwarzen Tasten, dazu die Quinten B-F und H-Fis rein zu stimmen.
Das Ergebnis ließ mich staunen, denn es klang sehr angenehm. Die
Berechnung mit Excel zeigte auch, dass damit wirklich eine interessante
Variante entstanden ist:
- Es
gibt natürlich Schwebungen bei den Quinten, die aber kaum zu
hören sind (etwa 1 statt wie gewohnt ½ Schwebung pro
Sekunde im mittleren Tonraum).
- Anstatt 10
verschiedenen Akkord-Klängen (bei der HaDEs-Stimmung) oder sechs
bei dem Vorschlag von Maria Renold gibt es nun 16 verschiedene
Klänge, nur C-Dur klingt wie G-Dur und F-Dur, H-Dur klingt wie
Des-Dur und Fis-Dur, entsprechend auch bei Moll.
Und: Je mehr
Vorzeichen eine Tonart hat, umso auffälliger sind die Schwebungen,
umso bewegter wird also der Akkord-Klang. Das hat in meinen Augen und
Ohren eine gewisse Schlüssigkeit.
Die Töne der Fis-Dur (Ges-Dur)-Tonleiter bilden eine
pythagoräische Tonleiter, weil sie nur aus reinen Quinten gebildet
wird. Daher kommt der Name
„wohltemperiert-pythagoräisch„.
Inzwischen habe ich bei mehreren Kunden diese Stimmung angewendet und
fast immer zustimmende Rückmeldungen erhalten. Einige Menschen
finden, dass die Tonarten mit 4, 5 oder 6 Vorzeichen zu schräg
klingen. Ich habe darum zusammen mit Musikstudenten und Klavierlehrern
Varianten entwickelt, die reinen Quinten doch ein wenig kleiner zu
stimmen, um den Effekt etwas zu verringern.